Die Situation: Am frühen Morgen kommt die 67jährige Frau Förster in Ihre Akutsprechstunde. Sie berichtet, dass sie sich vor einer Woche zuhause beim Gemüsescheiden mit dem benutzten Messer tief in den rechten Daumen geschnitten hatte. Sie war danach sofort in der Notaufnahme, in welcher ein Röntgenbild eine Knochenbeteiligung gezeigt hatte. Nach der initialen Wundversorgung wurde der Knochen so belassen und eine Cast-Schiene angefertigt, auf welcher der Daumen die letzten 4 Wochen ruhig gestellt wurde. Die weitere Wundversorgung wurde vom ambulanten Chirurgen durchgeführt. Hier war die Pat. aber Mal um Mal nicht gut versorgt gefühlt, sodass sie sich nun zur weiteren Versorgung bei Ihnen vorstellt.
Erster Eindruck - Was sind Ihre ersten Gedanken? Welche Erkrankungen/ Probleme kommen in Frage? Eine klare Frage scheint hier aktuell nicht vorzuliegen, das Anliegen der Patientin ist mit der Bitte um eine Wundkontrolle vorerst rein praktischer Natur.
Anamnese - Welche Fragen Stellen Sie? Da die Verletzung schon länger her ist, die initiale Wundversorgung und selbst die Nachkontrollen schon zu großen Teilen abgeschlossen ist (sein sollte) UND wir die Patientin und ihre Krankheitsgeschichte kennen fallen einem hier gar nicht so viele unmittelbare Fragestellungen ein. Wichtig sind für die Wundheilung relevante Grunderkrankungen wie ein unzureichend eingestellter Diabetes mellitus oder anderweitige Polyneuropathie, eine Hämophilie oder sonstige Blutkrankheiten, ... Man sollte sicherstellen, dass das Ausmaß und der bisherige Behandlungsverlauf verstanden sind (Ausmaß der Knochen und weichteilschäden mit evtl. Nerven-, Muskel- oder Sehnenverletzungen (wurde danach überhaut gesucht?), Evtl. muss der mitgebrachte Brief entsprechend gründlich studiert werden. Ist die Nahtmaterialentfernung bereits erfolgt, Gab es ein Kontrollröntgen, Ist eine Wundinfektion o.ä. aufgetreten). Der Tetanus-Schutzstatus sollte nochmal überprüft werden, da dieser oft vergessen wird. Ferne muss natürlich nach den aktuellen Beschwerden gefragt werden. Im vorliegenden Fall berichtet die Pat. von mäßigen Schmerzen im Bereich des verletzten Daumens sowie einem leichten Spannungsgefühl, sonst habe sie bisher keine Beschwerden bemerkt. Der Brief gibt eine Ausschluss von signifikanten Weichteilschäden an, das Nahtmaterial wurde bereits 10 Tage nach der Wundnaht komplikatinoslos entfernt, der Tetanusschulz ist intakt.
Klinische Untersuchung: Welche körperlichen Befunde erheben Sie? Auch wenn es sich nur um eine Cast-Schiene handelt sollte doch regelmäßig eine sog. "Gips-Kontrolle" durchgeführt werden. Die erste Kontrolle erfolgt einen Tag nach initialer Anlage der Schienung, ab dann mindestens einmal pro Woche. Hierbei wird unter dem Verband so gut wie möglich nach Druckstellen oder Verfärbungen als Hinweise auf einen zu fest sitzenden Gips/ Cast/ Verband gesucht. Ferner wird der Wundverband abgelegt und die Wunde an sich inspiziert (Wundzustand nekrotisch, purulenter Ausfluss, klaffende Wunde, ...). Gibt es allgemeine Inflammationszeichen (Rubor (Cave: Verwechslung mit physiologischer Wundrandhyperämie), Dolor, Calor, Tumor, Function laesa (bei Verletzungen logischerweise nur bedingt zu bewerten))? Schließlich MUSS zwingend bei jeder Extremitätenverletzung pDMS (= periphere Durchblutung, Motorik, Sensibilität) untersucht und dokumentiert werden. Im aktuellen Fall fällt ins Auge, dass die Wunde von einem großen trocken-nekrotischen Hautstück belegt ist. Ferner fällt auf, dass das berichtete Spannungsgefühl von einer leicht geschwollenen Hand ausgeht, welches sich deutlich über das Wundareal hinaus manifestiert hat. Generell erscheint die Hand wärmer und feuchter als die Gegenseite. Hauptsächlich fällt aber eine starke Einschränkung der Daumenabduktion und -opposition auf, die vo n der Pat. zwar bemerkt wurde, aber vom bisher behandelnden Chirurgen immer auf die noch nicht verheilte Wunde geschoben wurde.
Apparative Diagnostik - Benötigen Sie weitere Untersuchungen? Vorerst sollten wir uns auf die Bewertung der klinischen Befunde konzentrieren. Bei Zeichen einer Inflammation kann mittels Temperatur- & RR-Bestimmung sowie ggf. einer Blutentnahme nach systemischen Manifestationen gesucht werden.
Arbeitsdiagnose/ Differentialdiagnosen - Zu welchem Schluss kommen Sie nun? Der vorliegende Befund ist hoch verdächtig auf des Vorliegen eines CRPS Typ 1 (Handschwellung, Hyperhidrose, Motorikeinschränkung ohne Muskelverletzung). Ein CRPS Typ 2 passt aufgrund des Fehlens einer Nervenverletzung nicht wirklich. Alternativ kann argumentiert werden, dass eine nicht erkannte Muskel- oder Sehnenverletzung (dies würde aber das Ödem und die Hyperhidrose nicht erklären) oder Nervenverletzung (als Voraussetzung für das CRPS Typ 2, hier fehlt dann aber eine Sensibitätsstörung im entsprechenden Dermatom). Andere Diagnosen wie Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises oder Thrombembolien erscheinen bei Beginn und Klinik eher unwahrscheinlich.
Weiteres Vorgehen - Welche Therapie oder welches Procedere besprechen Sie mit dem/ der Pat.? Wie sieht ihr genereller Plan aus? Dieser Fall zeigt die Krux des CRPS sehr gut: Die Beschwerden sind häufig für den Patienten gar nicht so prominent und fallen meist eher in der Untersuchung, allenfalls als unspezifische und häufig als weniger belastende Beschwerden auf, sodass diese Diagnose bei jeder Wundkontrolle im Hinterkopf des Untersuchers sein muss. Sollte ein CRPS unbemerkt und damit auch unbehandelt bleiben, kann dies zum vollständigen Funktionsverlust der Extremität führen. Das CRPS ist i.d.R eine klinische Diagnose, welche bei mindestens 3 anamnestischen Merkmalen (Trauma wie Frakturen oder Nervenverleztungen, Repositionsmanövern, enge Verbände, lang anhaltender Schmerz nach Frakturen) und mindestens 2 klinischen Zeichen (Schmerzen unproportional zum Trauma, Ödem, Hyperhidrose, Sensibilitätsstörungen (auch Allodynie), Paresen, Unterschiede in Hautfarbe oder -temperatur, Nagel- und Haarwuchsatrophien, Hautatrophien) gestellt werden kann. Sollten unklarheiten herschen kann eine Röntgenuntersuchung BEIDER Extremitäten mit der Fragestellung nach punktuellen Verkalkungen angefertigt werden. Eine Skelettszintigraphie ist zwar sehr sensitiv, soielt aber im ambulanten Setting eine eher untergeordnete Rolle. In jedem Falle sollte eine sofortige Therapie eingeleitet werden um Spätfolgen zu vermeiden. Eine besondere Rolle nehmen hier die Funktiontherapien ein: Physiotherapie (besonderst Spiegeltherapietechniken, eine angemessene Lymphdrainiage sowie propriozeptive Techniken in der Ergotherapie. Bei entzündlichen Varianten und nach Fraktur gibt es gute Daten zur Wirksamkeit von Bisphosphonaten (welche bei der vorliegenden Patientin angewendet wurden). Glucocorticoide können bei rein entzündlichen Verläufen eingesetzt werden .