Die Situation: Frau Knappe ist eine Ihnen gut bekannte, betrage, aber noch selbstständig zuhause lebende Dame von 85 Jahren. Nachdem Ihr Mann im letzten Jahr gestorben ist, ist sie nochmal etwas aufgeblüht, kann auch wieder einige Busreisen unternehmen, da sie ihn nicht mehr pflegen muss. Nun aber betritt sie außerhalb ihrer üblichen Termine Ihr Sprechzimmer und setzt sich schwerfällig auf den Stuhl. "Seit ich heute früh aufgewacht bin, geht es mir richtig miserabel. Mir ist übel, die Luft ist knapp und ich habe so einen komischen Druck auf der Brust." Sie hält kurz inne und legt ihre Hand mittig auf das Brustbein. "Können Sie mir bitte sagen, was ich machen soll, damit das wieder aufhört?"
Erster Eindruck - Was sind Ihre ersten Gedanken? Welche Erkrankungen/ Probleme kommen in Frage? Frau Knappe, eine 85-jährige Patientin, die normalerweise unabhängig lebt, klagt über plötzliche Beschwerden. Ihre Symptome umfassen Übelkeit, Atemnot und einen drückenden Schmerz auf der Brust. Diese Symptome sind beunruhigend und sollten ernst genommen werden, da sie auf eine Reihe von potenziell lebensbedrohlichen Zuständen hinweisen können. Die sogenannten „Big Five“ Differentialdiagnosen für Brustschmerz, die sofort in Betracht gezogen werden sollten, sind: Akutes Koronarsyndrom (ACS), Lungenembolie, Aortendissektion, Spannungspneumothorax und Ösophagusruptur. Weitere wichtige Differentialdiagnosen umfassen die gastroösophageale Refluxkrankheit (GERD), Perikarditis, Pneumonie, Pleuritis und muskuloskelettale Schmerzen.
Anamnese - Welche Fragen Stellen Sie? Eine gründliche Anamnese ist entscheidend, um die möglichen Ursachen für Frau Knappes Symptome weiter einzugrenzen. Wichtige Fragen, die gestellt werden sollten, umfassen: Seit wann bestehen die Beschwerden, und wie haben sie sich entwickelt? Haben Sie schon einmal ähnliche Symptome erlebt? Gibt es Auslöser, die die Symptome verschlimmern oder verbessern? Gibt es Begleitsymptome wie Schwitzen, Synkopen, Palpitationen oder Fieber? Haben Sie Vorerkrankungen wie Hypertonie, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, oder eine bekannte koronare Herzkrankheit (KHK)? Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein, insbesondere Blutdrucksenker, Blutverdünner oder andere Herzmedikamente? Gibt es in Ihrer Familie eine Geschichte von Herzkrankheiten oder plötzlichem Herztod? Haben Sie in letzter Zeit psychischen Stress oder körperliche Anstrengungen erlebt? Frau Knappe berichtet, dass die Beschwerden heute früh plötzlich auftraten und seitdem an Intensität zugenommen haben. Sie hat keine ähnliche Episode in der Vergangenheit erlebt. Die Beschwerden werden durch Bewegung verschlimmert und durch Ruhe leicht gelindert. Sie hat kein Fieber, aber bemerkt vermehrtes Schwitzen. Sie hat eine bekannte Hypertonie und nimmt dafür Medikamente ein, hat jedoch keine bekannte KHK. Ihr Mann ist letztes Jahr gestorben, was eine erhebliche Stressquelle darstellt.
Klinische Untersuchung: Welche körperlichen Befunde erheben Sie? Die klinische Untersuchung sollte systematisch erfolgen und kann Hinweise auf die zugrunde liegende Ursache der Beschwerden geben. Die Untersuchung des Allgemeinzustands umfasst die Vitalzeichen (Blutdruck, Puls, Atemfrequenz, Temperatur, Sauerstoffsättigung). Beim Herz-Kreislauf-System werden Herzgeräusche, Rhythmus, Pulsqualität und Zeichen einer Herzinsuffizienz (z.B. Ödeme, Halsvenenstauung) überprüft. Beim respiratorischen System sind Atemgeräusche, Zeichen einer Dyspnoe und periphere Zyanose relevant. Beim Abdomen wird nach Druckschmerz, Abwehrspannung und Zeichen einer gastrointestinalen Ursache gesucht. Das muskuloskelettale System wird auf Druckschmerz im Brustbereich und Zeichen einer muskoskelettalen Ursache hin untersucht. Schließlich wird das neurologische System auf Bewusstseinslage und neurologische Defizite überprüft. Bei Frau Knappe zeigen sich folgende Befunde: Sie hat eine erhöhte Atemfrequenz (22/min), eine leichte Tachykardie (Puls 98/min) und einen erhöhten Blutdruck (160/90 mmHg). Es gibt keine Anzeichen einer Herzinsuffizienz, aber sie berichtet über Druckempfindlichkeit im mittleren Brustbereich.
Apparative Diagnostik - Benötigen Sie weitere Untersuchungen? Aufgrund der Symptomatik und der Differentialdiagnosen sollten folgende diagnostische Tests durchgeführt werden: Ein EKG zur Erkennung ischämischer Veränderungen, Rhythmusstörungen oder anderer Herzprobleme. Blutuntersuchungen, insbesondere Troponin-T oder -I zur Diagnose eines Myokardinfarkts, D-Dimer bei Verdacht auf Lungenembolie (nur nach vorheriger Durchführung des WELLS-Scores für LAE zur Erhöhung der Vortestwahrscheinlichkeit), Blutbild, Elektrolyte und Nierenfunktion. Ein Thorax-Röntgen zur Beurteilung von Lungenpathologien wie Pneumonie oder Pneumothorax sollte in der ambulanten Versorgung nur nach sicherem Ausschluss der Big Five durchgeführt werden, da hier viel wertvolle Zeit verloren werden kann. Eine Echokardiographie zur Beurteilung der Herzfunktion und zur Erkennung struktureller Herzprobleme. Eine CT-Angiographie des Thorax (im klinischen Setting) ist der Goldstandard bei Verdacht auf eine Lungenembolie oder Aortendissektion (letztes geht aber auch mit einer Erhöhung des D-Dimer einher und ist somit bei neg. D-Dimer ausgeschlossen).
Arbeitsdiagnose/ Differentialdiagnosen - Zu welchem Schluss kommen Sie nun? Nach der initialen Diagnostik zeigen sich keine eindeutigen EKG-Veränderungen, jedoch ein leicht erhöhtes Troponin-T. Die Thorax-Röntgenaufnahme zeigt keine auffälligen Befunde. Basierend auf diesen Ergebnissen und der klinischen Präsentation ordnen wir die Differentialdiagnosen wie folgt: Ein akutes Koronarsyndrom (ACS) ist sehr wahrscheinlich aufgrund der typischen Symptome und des erhöhten Troponins. Eine Lungenembolie ist weniger wahrscheinlich aufgrund fehlender Risikofaktoren und unauffälligem D-Dimer. Eine Aortendissektion ist unwahrscheinlich aufgrund fehlender typischer Schmerzcharakteristik und normalem Thorax-Röntgenbild. Ein Spannungspneumothorax ist sehr unwahrscheinlich aufgrund unauffälliger Auskultation und Thorax-Röntgen. Eine Ösophagusruptur ist unwahrscheinlich aufgrund fehlender anamnestischer Hinweise und Symptomatik.
Weiteres Vorgehen - Welche Therapie oder welches Procedere besprechen Sie mit dem/ der Pat.? Wie sieht ihr genereller Plan aus? Aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit eines akuten Koronarsyndroms wird die Patientin sofort einer intensivierten Therapie zugeführt. Die initiale medikamentöse Notfallbehandlung umfasst zuerst die Gabe der Medikamente, welche die Prognose verbessern: Acetylsalicylsäure (ASS) 300-500 mg i.v. (Aspisol) zur Hemmung der Thrombozytenaggregation, Heparin 5000 I.E. i.v. zur Antikoagulation und partiellen Thrombolyse. Nitroglycerin 0,4 mg sublingual oder als Spray kann zur kurzfristigen Beschwerdelinderung, Morphin 2-5 mg intravenös zur Schmerzreduktion und Senkung des Sympathikotonus (damit wird eine Senkung des peripheren Widerstandes und damit der Vorlast erreicht, was wiederum zu einem verminderten Sauerstoffbedarf des Myocards führt) und Betablocker (z.B. Metoprolol) initial 5 mg intravenös, falls keine Kontraindikationen wie Bradykardie oder Hypotension vorliegen. Eine anschließende Koronarangiographie zur definitiven Diagnosesicherung und Therapie (z.B. PTCA oder Stent-Implantation) ist indiziert. Die Prognose von Frau Knappe hängt maßgeblich von der Schnelligkeit und Effizienz der initialen Therapie ab. Bei rechtzeitiger und adäquater Behandlung ist die Prognose für ein NSTEMI-ACS im Allgemeinen günstig. Langfristig wird eine Optimierung der kardiovaskulären Risikofaktoren (z.B. Blutdruckkontrolle, Lipidsenkung, Raucherentwöhnung) sowie eine regelmäßige kardiologische Nachsorge notwendig sein.